Warum wünscht man sich die Führungsposition, lehnt das Angebot aber ab? Warum sehnt man sich nach einem Partner auf Augenhöhe, verharrt aber in einer Frauenrolle, die als Vorlage für „Mad Man“ herhalten könnte? Warum möchte man unbedingt seinen Beitrag leisten am Gemeinwohl, hat aber immer noch nicht die Anmeldung für die Nonprofit-Organisation oder den Parteibeitritt abgeschickt?

Will heißen: Warum dreht man sich wieder und wieder im Kreis? Warum endet man in dergleichen Situation oder Sackgasse seit gefühlten Jahrzehnten – trotz aller logischen Argumente und guten Vorsätze?

Rosamund Stone Sander, systemische Familientherapeutin und Bestsellerautorin, beschreibt in ihrem Buch „Pathways to possibility“ eine sehr eindringliche Geschichte:

Einer ihrer Klienten soll in seiner Firma zum Abteilungsleiter befördert werden. Seit mehreren Jahren. Immer wieder lehnt er ab, obwohl er sich die Position vorstellen kann und auch denkt, dass er ihr inhaltlich gewachsen ist. Rational besehen gibt es keinen Grund, warum der Klient die Stelle ablehnen sollte, die mit einer Gehaltserhöhung, mehr Gestaltungsmöglichkeiten, mehr Freiheit und Verantwortung verbunden ist. Er empfindet sein ablehnendes Verhalten als belastend und selbstboykottierend, es macht ihn krank. Er leidet unter Schlafstörungen und Herzrasen. Er wünscht sich eigentlich nichts mehr als die neue Stelle.

Rosamund Stone Sander bietet ihrem Klienten nach einem ausführlichen Vorgespräch und Kennenlernen die Begriffe Verantwortung, Macht, Geld, Freiheit, Kreativität usw. an. Bei welchem Wort fühlt sich der Mann körperlich unwohl, wobei fangen seine Hände an zu schwitzen, das Herz an zu rasen o.ä. Nachdem der Begriff Verantwortung identifiziert werden kann, lässt sie ihn eine Zeitreise antreten. In welcher Lebenssituation fühlte er sich einer Verantwortung nicht gewachsen? Wie regiert er somatisch, d. h. mit einer körperlichen Reaktion auf seine eigene Schilderung? Wann ist diese Reaktion, in der Fachsprache spricht man von sogenannten „somatischen Markern“, am stärksten?

Der Klient schildert folgende Situation: Als circa sechsjähriger Junge möchte er seine Mutter mit einem Blumenstrauß überraschen. In dem Moment, in dem er die Blumen im eigenen Vorgarten pflückt, kommt der Vater nach Hause. Dieser stürzt sich auf seinen Sohn, schreit ihn an, schlägt ihm die Blumen aus der Hand und sperrt ihn in sein Zimmer. Was war passiert? Der Klient erinnert, dass er sich zum ersten Mal im Leben aktiv eine Handlung überlegt hatte. Er kam sich dabei erwachsen und verantwortungsvoll vor: „Ich möchte der Mutter einen Blumenstrauß schenken, ich gehe dafür in den Vorgarten, ich pflücke die Blumen, die roten und die weißen. Ich überrasche meine Mutter mit dem Strauß, sehr wahrscheinlich mache ich ihr eine Freude.“

Durch die Intervention des Vaters ist der Entschluss, Verantwortung zu übernehmen mit einer negativen emotionalen Erinnerung verbunden: Eingesperrt in seinem Zimmer fühlte der sechsjährige Junge sich verwirrt, einsam, traurig, missverstanden. Er fühlte sich schuldig und alleine verantwortlich für das Desaster. Diese emotionale Erinnerung ist bis heute im erwachsenen fünfunddreißigjährigen Mann gespeichert. Das erwachsene Ich möchte sich vor diesem Gefühl bewahren, darum setzt sich der Klient unbewusst nicht mehr einer Situation aus, in der er zur Rechenschaft gezogen werden könnte für eine Handlung. Er umgeht die Verantwortung.

Aber die Reaktion des Vaters hatte eventuell viel weniger oder gar nichts mit dem Sohn zu tun. Vielleicht war der Vater erzürnt darüber, dass der Sohn der Mutter Blumen schenkte, weil er selber diese nette Geste versäumte. Oder der Vater war angespannt über eine berufliche Situation, die sich in dem Moment, in dem er den Sohn in seinem Vorgarten sah, entladen konnte usw.

Emotionale Erinnerungen sind tief verankert, vor allem negative. Sie lassen sich aber – von einem Therapeuten oder Coach begleitet – ins Positive oder Neutrale auflösen, indem die Interpretation der damaligen Situation hinterfragt und umgeschrieben wird. Optimalerweise kann man die Beteiligten, in dem Fall den Vater, noch fragen, was seine damalige Reaktion bewogen hat. Oft ist das aber leider nicht möglich, so dass der Therapeut oder Coach zusammen mit Ihnen an möglichen alternativen Erklärungsmodellen für die damalige Situation arbeitet, die dann die alte emotionale Erinnerung ersetzen.

Rosamund Stone Sander: Pathways to Possibility. Penguin Random House. 

 

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